Das Sundance Filmfestival findet erstmals digital statt. (2024)

Bei der Eröffnungspressekonferenz saßen Keri Putnam, Chefin des Sundance Institute, welches das Festival veranstaltet, und Festivaldirektorin Tabitha Jackson in unterschiedlichen Räumen und gaben einer Moderatorin Antworten. Unter anderem sagten sie, dass die Filmbranche das Problem der Diversität gelöst haben wird, wenn keiner mehr danach fragt. Ein rein weibliches Podium ist bei Festivals selten. Hier ist es immerhin so normal, dass tatsächlich niemand mehr danachfragt.

Sundance findet normalerweise in Park City im amerikanischen Utah statt, einem Skiort. Erst sollte es wegen Corona eine Hybrid-Ausgabe mit live gestreamten Vorführungen in Kinos in den USA werden. Vieles musste dann aber komplett ins Netz verlegt werden, zu schlimm wütet die Pandemie. Sundance ist seit der Eröffnung am 28. Januar und bis zum Abschluss am 3. Februar eine überwiegend virtuelleVeranstaltung.

Normalerweise gibt es Drinks im Schnee, diesmal klickt man sich vom Netflix-Empfang zum Warner-Empfang. Na ja

Putnam, Jackson und ihr Team haben sich viel Mühe gegeben, möglichst viel Festivalleben ins Internet zu retten: Es gibt Anmoderationen zu den Filmen und Fragestunden mit den Filmemachern fürs Publikum. Es gibt eine virtuelle Bar, in der man als Avatar an der Theke stehen kann, um sich mit anderen Zuschauern zu unterhalten; und sogar die "Sitzplätze", die es ja eigentlich gar nicht gibt, bleiben begrenzt, als wäre man im Kino - denn auch die Mühsal, Karten für die Filme zu ergattern, die man wirklich sehen will, ist schließlich eine typischeFestivalerfahrung.

Manche der Ideen sind im Ergebnis aber eher unbefriedigend. Die Hauptstraße von Park City beispielsweise, auf der die Sponsoren ihre Werbebüros haben, mag im Schnee und mit Gratis-Drinks und Empfängen ihren Reiz haben - als Abfolge von Websites, auf denen Warner, Netflix und andere ihre neuesten Produktionen anpreisen, wirkt das weder besonders charmant noch exklusiv. Und auch bei einer gestreamten Filmpremiere bleibt ein schaler Nachgeschmack zurück. Die Fragen des Publiku*ms werden per Chat eingereicht, und da ahnt man dann vielleicht manchmal, dass es den Zuschauern gefallen hat - aber der Applaus am Ende, oder wahlweise auch das betretene Schweigen, ist virtuell nicht zuersetzen.

Die meisten Filmemacher hatten sich damit abgefunden, dass dieses Ereignis weniger feierlich sein würde als eine normale Festivalpremiere und hatten an, was man so anhat, wenn man zu Hause vor dem Laptop sitzt. Rebecca Hall allerdings, die Vicky aus "Vicky Christina Barcelona", saß in einem roten Puffärmel-Monstrum aus Samt und mit Brillantohrringen auf dem heimischen Sofa, was irgendwie merkwürdig aussah, weil man ja nicht mal sicher sagen kann, ob es sich um den oberen Teil eines Abendkleids handelt. Soweit man das sehen konnte, hätte sie untenrum auch Pyjama-Hosen tragenkönnen.

Sie hat jedenfalls einen großartigen Film gedreht - "Passing" ist ihr Regiedebüt, auch das Drehbuch hat sie selbst geschrieben. Im Sommer 1929 treffen sich zwei Frauen im Restaurant eines Nobelhotels in New York wieder, Clare (Ruth Negga) und Irene (Tessa Thompson). Beide Schauspielerinnen sind schwarz, und in dem Restaurant sind ihre beiden Figuren gelandet, weil es mit ein bisschen Puder fürs "Passing" reicht, sie gehen als Weiße durch. Irene lebt mit ihrer Familie in Harlem. Clare aber hat ihre Haare blondiert und einen reichen, durch und durch rassistischen Geschäftsmann geheiratet, dem nie der Gedanke gekommen ist, sie könnte nicht weißsein.

Misstrauen, Unsicherheit, Identitätsverlust: Wovon soll ein amerikanisches Filmfestival gerade auch sonst erzählen?

Halls Film basiert auf einem Roman von Nella Larsen, und Hall hat die Geschichte fasziniert, weil sie in ihrer eigenen Ahnenreihe einen Großvater fand, der als Weißer durchging. "Passing" ist großartig gespielt, voller kleiner Nuancen, in Schwarz-Weiß gedreht. Die Abstraktion von Farben im Film, sagte Hall nach dem Screening, sei ihr naheliegend vorgekommen. Tatsächlich passt das zu dieser Geschichte. Es gibt kaum weiß oder schwarz, aber unendlich vieleGrautöne.

Misstrauen, Unsicherheit, Identitätsverlust - das ist ein ausgesprochen zeitgemäßes Thema für ein Festivalprogramm, zumal für ein amerikanisches. Welche Lösungen ein Festival auch immer für das Drumherum gewählt hat, selbst im Idealfall nützt das alles nichts, wenn die Filme nicht gut genug sind. Es war ein hartes Jahr für die Filmemacher, geprägt von Drehstopps und Sicherheitsauflagen. An den Einreichungen hat man das noch nicht gemerkt, sagen die Veranstalterinnen. Vielleicht profitieren die Festivals im Moment noch von einer Art Schaffensstau, weil viele der Filme, die jetzt gezeigt werden, ihren Dreh noch vor der Pandemie hatten. Aber wie auch immer: Sundance ist seinem Ansatz, mit seinem Programm ein besseres Amerika zu beschwören, gerecht geworden. In den verschlankten Reihen waren überall echte Filmjuwelen zufinden.

Unter den amerikanischen Dokumentarfilmen beispielsweise "Rebel Hearts" von Pedro Kos, ein grandioses Fundstück. Es geht um eine Nonnenrebellion, die zumindest Europäern kaum geläufig sein dürfte. Kos erzählt die Geschichte spannend wie einen Krimi. Der Kardinal James Francis McIntyre, ehemaliger Börsenmakler, entdeckte nach seiner Ernennung zum Erzbischof von Los Angeles 1948 das Schulsystem der wachsenden Metropole als Geschäftszweig - Nonnen bekommen schließlich kein Gehalt. Die Gemeinschaft am Immaculate Heart College, die dabei eine zentrale Rolle spielte, wurde in den Sechzigern von der sich verändernden Welt mehr mitgerissen, als es ihm passte: frauenbewegt, kriegsgegnerisch, unabhängig. Ein Machtkampf entbrannte, an dessen Ende die meisten der Nonnen aus dem Orden austraten. Alte Fernsehinterviews zeigen: Die Anführerinnen der Nonnen haben nicht ihren Glauben verloren, sie haben das Selbstbewusstsein gefunden, jede Inkonsistenz in den Weisungen ihres Erzbischofs zu erkennen und zu benennen. Die Sache ging für ihn nicht gutaus.

Festivalgründer Robert Redford zeigt einen Kurzfilm, in dem er die Kunst preist

Am besten aber hat der Regisseur Ronny Trocker das Gefühl der Unsicherheit, den Verdacht, dass man keinem wirklich ins Herz schauen kann, auf den Punkt gebracht bei diesem Festival. "Der menschliche Faktor" gilt zwar irgendwie als deutscher Wettbewerbsbeitrag in Sundance, aber man kann den Film getrost als gesamteuropäisches Phänomen bezeichnen: Autor und Regisseur Ronny Trocker ist aus Südtirol, sein Werk eine deutsch-italienisch-dänische Koproduktion. Die Handlung spielt überwiegend in Belgien und gesprochen wird neben Deutsch vielFranzösisch.

Man sieht am Anfang ein Paar, das im Ferienhaus an der Nordsee ankommt mit seinen beiden Kindern, einer halbwüchsigen Tochter und einem kleinen Sohn, der seine Schmuseratte Zorro dabei hat. Nina (Sabine Timoteo) reißt Fenster und Türen auf, Jan (Mark Waschke) geht einkaufen. Auf dem Rückweg telefoniert er kurz, und als er an der Tür ankommt, ist seine Frau verletzt und schreit, dass Einbrecher im Haus waren. In der Familie tun sich nun Gräben auf, und das Misstrauen ist bei Trocker durchaus politisch zu verstehen. Das ganze Wochenende in Belgien sollte dazu dienen, Differenzen beizulegen. Jan und Nina haben eine gemeinsame Werbeagentur, und sie ist entgeistert, dass er ohne Rücksprache den Auftrag einer populistischen Partei angenommen hat, die im nächsten Wahlkampf für Krawall sorgen will, weil "Empathie keine Stimmenbringt".

Am Ende hat man mehr Fragen als Antworten, "Der menschliche Faktor" erzeugt die Unsicherheit, von der er erzählt. Trocker bewegt sich in der Handlung vor und zurück, immer wieder landet er beim Moment des vermeintlichen Einbruchs, der aus unterschiedlichen Perspektiven gezeigt wird. Was wirklich geschehen ist, weiß nur einer, und der kann nichts mehr sagen. Alles, was Trocker zeigt, was man in seinem Film hört, zu sehen glaubt, wirkt ein wenig bedrohlich. Die Angst schlummert unter der Oberfläche, Ninas Vertrauen ist erschüttert. Das hat weniger mit dem unangenehmen Gefühl der Unsicherheit zu tun, das einen nach einem Einbruch beschleicht, als damit, dass sie in Jan etwas erkannt hat, was ihr vorher nie aufgefallen ist oder was nicht dawar.

Zur Eröffnung von Sundance gab es einen kleinen Film des Festivalgründers Robert Redford zu sehen, eine Art verfilmtes Gedicht, in dem er die Kunst preist. So wie riesige Teleskope in der Wüste gemeinsam das Universum erfassen, heißt es darin, hält jeder Künstler einen " Spiegel, in dem wir einen Teil unserer Wirklichkeit erkennen". Ronny Trocker hat ein ziemlich großes Stück vom Spiegel der Realitäterwischt.

Das Sundance Filmfestival findet erstmals digital statt. (2024)

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