Sundance Filmfestival: Der Star vor seiner Bücherwand (2024)

Es ist die liebenswerte Schwäche von heute, das kleine Vorkommnis, an dem man erkennt, dass auch ein Hollywoodstar ein Mensch mit sehr normalen Problemen ist: "Das WLAN ruckelt!" Was der Schauspieler Demián Bichir beim Publiku*msgespräch über seine Rolle in Robin Wrights Film Land zu sagen hatte, war wegen einer stotternden Internetverbindung nicht immer klar verständlich. Doch gerade dieses Stottern stellte eine besondere Nähe her. In nicht pandemischen Jahren würde Bichir auf der Bühne eines Kinosaals in Park City in Utah sitzen, wo nur die vorderen Reihen ihm noch direkt ins Gesicht sehen könnten. Bei seiner ersten rein virtuellen Ausgabe aber bot das Sundance Filmfestival allen Zuschauern die Möglichkeit, vom heimischen Sofa aus Bichir direkt ins Wohnzimmer zu blicken. Oder Robin Wright in die Küche. Oder Rebecca Hall ins Bücherregal. Tatsächlich könnte man diesen Sundance-Jahrgang problemlos als Rezension seiner Zoom-Hintergründe abfassen: Es dominierte die Bücherwand, ein "Zurschaustellen des eigenen kulturellen Kapitals", wie es einer der Festivalteilnehmer selbstkritisch auf den Punkt brachte.

Online – das hat auch was, kann man nach diesen ersten virtuellen Großfestspielen konstatieren. Die Publiku*msgespräche nach den einzelnen Filmen, in denen Regisseurinnen und Schauspieler sich per Zoom-Konferenz den Fragen eines Festivalkurators stellten, waren ein wichtiger Teil davon. Auch als Zuschauerin konnte man Fragen einreichen. Vorbedingung dafür war lediglich, sich rechtzeitig im virtuellen Warteraum anzumelden, wo dann die Chatfunktion freigeschaltet wurde. Streamen konnte man Filme und Diskussionen zwar auch zeitversetzt, aber die Diskussionsteilnahme war an den Moment gebunden. Dieser immer gleiche Bildschirmaufbau mit seinen Blicken in die diversen Stuben, Küchen und Gärten schuf eine spontane, durch die Umstände eben oft ein bisschen raue Nähe zu den prominenten und weniger prominenten Filmemacherinnen und Filmschaffenden, wie man sie auf realen Festivals nur selten erlebt. Das Zoomen – gemeint ist nicht die Plattform als solche, sondern die Art des Videogesprächs, für die das Wort inzwischen metonymisch steht – ist auch ein großer Gleichmacher, ein demokratisierendes Element, das uns alle ein wenig ungelenk aussehen lässt im Ringen um den besten Winkel vor der Computerkamera.

Die Virtualität nicht als bloßen Ersatz fürs Reelle zu begreifen, sondern als Chance, mehr und neues Publikum zu erreichen, das hat sich das Sundance Festival zum Ziel gesetzt, als klar wurde, dass eine physische Veranstaltung im Januar 2021 nicht möglich sein würde. Über konkrete Zahlen weiß man noch nichts, tatsächlich ist das Gefühl für Zuschauerdichte etwas, das Sundance noch nicht simulieren konnte, aber die Anlage und Gestaltung haben in überraschendem Ausmaß überzeugt. Ja, es gab ein Festivalgefühl, eine Spannung von Tag zu Tag, eine Vorfreude auf Begegnungen mit Stars und Regietalenten, ein wachsender Hunger auf Filme und am Ende bei der Preisverleihung mit Patton Oswalt, einem – wie bei solchen Anlässen üblich – nur mäßig witzigen Moderator, viel Emotionen. Hauptgewinner mit gleich vier Preisen in der US-amerikanischen Spielfilmsektion wurde das Familiendrama Coda von Siân Heder, in dem eine hörfähige Tochter lernen muss, sich von ihrer taubstummen Familie zu lösen. Im internationalen Wettbewerb räumte der albanische Frauenfilm Hive von Blerta Basholli mit drei Preisen ab. Da gab es dann sogar ein paar echte Tränen der Rührung.

An jeder Stelle der Onlineausgabe war zu spüren, dass das nahtlose Streamen von Filmen zwar wichtig ist, aber längst kein Filmfest ausmacht. Um den Verlauf einer Festivalwoche zu simulieren, gab es feste Zeitfenster zur Sichtung der einzelnen Filme, die gleichzeitig mit Augenmaß kulant gehalten wurden: Man durfte sich auch um mehr als eine halbe Stunde verspäten, ohne etwas zu verpassen – in der Realität undenkbar.

Jeder einzelne Film wurde vom zuständigen Kurator oder der Kuratorin vorgestellt, die stets die jeweiligen Filmemacher zum kurzen Einleitungsstatement mit in den Bildschirm holten. Im Anschluss gab es die erwähnten Befragungen und daneben täglich weitere Diskussionen und Symposien, die wie die Publiku*msdiskussionen vom Streamingformat sogar profitierten: Man kann tatsächlich sehr viel besser zuhören, wenn im Saal nicht dauernd neue Gäste kommen und andere wieder gehen.

Eine Besonderheit des diesjährigen Festivalgefühls, die man nach der Rückkehr zum physischen Festival sogar vermissen wird, waren die Sundance Dailies, eine Art tägliches Frühstücksfernsehen mit der neuen Leiterin Tabitha Jackson als Moderatorin. Diese für den europäischen Geschmack sehr US-amerikanisch und sehr gescripted wirkenden Halbstünder brachten jeden Tag eine Schalte direkt nach Park City, wo der ehemalige Leiter des Festivals, John Cooper, erstens einen Wetterbericht ablieferte – schwankend zwischen "kalt" und "verdammt kalt" – und zweitens die Rituale und die Geschichte von Sundance vorstellte: das Café, in dem sich die Szene trifft, die Bärenstatue, mit der man Selfies macht, das Resort, wohin das Festival seine Regisseure zum Brunch einlädt. Cooper interviewte auch Beteiligte, die sonst selten vor die Kamera kommen: Robert Redfords Tochter Amy und den Bürgermeister des 8.000-Seelen-Orts Park City, das zu Festivalzeiten 100.000 Gäste beherbergt. Oder eine der vielen freiwilligen Helferinnen, die in anderen Jahren für die reibungslose Organisation dieser Massen sorgt. Für die einen, die Veteranen, waren diese Dailies sentimentales Erinnern, für die anderen, die Neulinge, die perfekte Einführung in eine 40-jährige Tradition.

Einzig mit dem Plaudern, Schwätzen und Tratschen über Filme und Filmemacher, dem buzz eines Festivals, hat es doch noch nicht so richtig geklappt. Die Filmpartys auf der Virtual-Reality-Plattform New Frontier, die man per Avatar betreten konnte, waren nämlich fast zu nah dran an der Wirklichkeit: Als Strichmännchen mit Passfotogesicht stand man da in etwa so einsam herum wie auf einer realen Party, sich unwohl fühlend, wenn man allein da war und keinen kannte. Mit dem Dilemma – spreche ich jemanden an? Will ich angesprochen werden? – ließ einen die Plattform dann sehr real doch allein.

Dabei hätte es viel zu besprechen gegeben: Dem diesjährigen Filmprogramm war weder Stillstand noch Krise anzumerken. Sowohl im Dokumentar- als auch im Spielfilmbereich gab es starke Titel, die hoffentlich im laufenden Jahr ihren Weg ins Kino finden werden. Sundance lieferte nun den Beleg dafür, dass im Onlineformat eine echte Chance liegt, weltweit Publikum zu erreichen und Filmen eine optimale Startplattform zuzuschneiden. Zugleich zeigte das Festival auch, dass das nicht unbedingt als Konkurrenz zum Kino oder als Angriff gegen einen realen Besuch dorthin begriffen werden muss. Nach all der Nähe in den Wohnzimmern der Stars ist die Lust, ins Kino zu gehen, nur noch gewachsen.

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